Einleitung zum Verfassungsrecht (Felix Welti)

I. Entwicklung und Einordnung

Der Schutz behinderter Menschen durch besondere Verfassungsnormen ist in Deutschland noch jung. Im allgemeinen Verfassungsrecht wurden (und werden) behinderte Menschen vor allem durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), das Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG) und das Sozialstaatsgebot für Bund und Länder (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG) geschützt. Entscheidend ist dabei, dass der Staat zur Achtung und zum Schutz der Würde jedes Menschen verpflichtet ist (Art. 1 Abs. 1 GG) und entsprechend darauf zu achten ist, dass alle behinderten Menschen als Rechtspersonen mit Grundrechten anerkannt und in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit durch Gebrauch der Grundrechte geschützt werden. Der soziale Rechtsstaat kann dabei nicht gleichgültig gegenüber den konkreten Bedingungen der Persönlichkeitsentfaltung sein. Der Vorschlag, besondere Rechte behinderter Menschen in der Verfassung zu verankern, wurde zuerst am Runden Tisch der DDR entwickelt. Von dort fand er in den Jahren 1992 Aufnahme in den Verfassungen Brandenburgs (Artt. 26 Abs. 1, 29 Abs. 3, 45 Abs. 1, 48 Abs. 4), Sachsens (Art. 7), Sachsen-Anhalts (Art. 38) und 1993 in die Verfassungen Thüringens (Art. 2 Abs. 4) und Mecklenburg-Vorpommerns (Art. 17). In der nach der deutschen Einheit eingesetzten Gemeinsamen Verfassungskommission von Bund und Ländern war das Anliegen zuerst umstritten, wurde dann aber mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG 1994 im Grundgesetz aufgenommen. Es folgten 1995 Berlin (Art. 11 VvB) und Baden-Württemberg (Art. 2a BWVerf), 1997 Bremen (Art. 2 Abs. 2 BremVerf), 1998 Bayern (Art. 118a BayVerf), 1999 das Saarland (Art. 12 Abs. 4 SLVerf) und 2000 Niedersachsen (Art. 3 Abs. 3 NdsVerf) sowie Rheinland-Pfalz (Art. 64). In Schleswig-Holstein werden seit 2006 zwar nicht alle behinderten, aber immerhin die pflegebedürftigen Menschen durch die Verfassung geschützt (Art. 5a SHVerf). In den Ländern Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen fehlt es an expliziten Verfassungsnormen zum Schutz behinderter Menschen.

II. Wesentlicher Inhalt

Die genannten Normen unterscheiden sich in ihren Textfassungen erheblich. Während in Brandenburg ein umfassendes Programm sozialer Schutz- und Förderpflichten aufgestellt ist, haben Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Berlin, Bremen, Bayern und Rheinland-Pfalz knapp und allgemein gefasste Schutz- und Förderpflichten, Schleswig-Holstein beschränkt auf pflegebedürftige Menschen. Im Grundgesetz und ihm folgend in Baden-Württemberg, im Saarland und in Niedersachsen ist nur ein gleichheitsrechtliches Benachteiligungsverbot aufgenommen worden. Trotz der Unterschiede in den Textfassungen lassen sich aus Entstehungsgeschichte und Wortlaut zwei wesentliche Pflichten des Staates aus den Verfassungsnormen erkennen: Erstens müssen behinderte Menschen als gleichberechtigte Rechtssubjekte anerkannt werden. Rechte, die anderen Menschen zustehen, dürfen ihnen nur aus zwingenden Gründen vorenthalten werden. Daher hat das BVerfG etwa das Testierverbot für schreib- und sprechunfähige Personen aufgehoben (BVerfGE 99, 341). Zweitens müssen behinderte Menschen so behandelt werden, dass ihre Entfaltungsmöglichkeiten jedenfalls in staatlich gestalteten Lebensbereichen sowenig wie möglich eingeschränkt werden. Dies hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum Sonderschulbesuch gegen den Willen von Eltern und behinderten Kindern herausgestellt (BVerfGE 96, 288). Während es sich bei der Rechtsgleichheit um eine strikte Regel handelt, sind abgeleitete oder explizite Förder- und Schutzpflichten Prinzipien, die mit anderen Prinzipien abgewogen werden müssen und deren Gewicht durch die Verfassungsnormen verstärkt wird. Sie wirken auch in die staatliche Gestaltung von Beziehungen des Privatrechts hinein, etwa in das Mietrecht (BVerfG, NJW 2000, 2658).

III. Durchsetzbarkeit

Verfassungsnormen sind vom jeweiligen Gesetzgeber, der öffentlichen Verwaltung und den Gerichten bei der Setzung, Anwendung und Auslegung des Rechts zu beachten. Verfassungsrechtliche Argumente können im politischen Prozess und in jedem gerichtlichen Verfahren eingebracht werden. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen eine angenommene Verletzung von Verfassungsrecht richten sich nach dem jeweiligen Verfassungsprozessrecht. Unmittelbar gegen ein (neues) Gesetz können Bundes- oder Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestags mit der abstrakten Normenkontrolle vorgehen (Art. 83 Abs. 1 Nr. 2 GG). Einzelne Personen können eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz nur dann in Jahresfrist erheben, wenn kein anderweitiger Rechtsschutz gegen die Ausführung des Gesetzes möglich ist oder wenn das BVerfG die allgemeine Bedeutung oder die Unzumutbarkeit des Abwartens anerkennt (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). Ansonsten richten sich Verfassungsbeschwerden insbesondere gegen die letztinstanzlichen Entscheidungen über die Auslegung von Gesetzen. Alle deutschen Gerichte können mit einer konkreten Normenkontrolle (Art. 100 GG) dem BVerfG eine Norm vorlegen, wenn sie für eine Entscheidung erheblich ist und das vorlegende Gericht von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Die Rechtsschutzmöglichkeiten im Landesverfassungsrecht sind unterschiedlich geregelt. Nicht in allen Ländern sind individuelle Beschwerden zu den Landesverfassungsgerichten möglich.

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