Einleitung zum Europäischen Recht (Felix Welti)

I. Entwicklung und Einordnung

Das Europäische Recht als Rechtsordnung der Europäischen Union und Europäischen Gemeinschaft hat erheblichen Einfluss auf das deutsche Recht. Es hat als supranationale Rechtsordnung Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht. Der Wille der Bundesrepublik Deutschland, Teil einer immer enger werdenden Union zu sein, ist in Art. 23 GG niedergelegt.
Die Verträge (Primärrecht) der mittlerweile 27 Mitgliedstaaten haben die EU und EG legitimiert, dem nationalen Recht vorrangige eigene Rechtsnormen zu schaffen und Rechtsakte zu erlassen. Dies sind insbesondere die unmittelbar wie nationale Gesetze geltenden Verordnungen (VO), die von den Mitgliedstaaten umzusetzenden Richtlinien (RL) sowie Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 249 EGV). Die Verträge befinden sich in einem ständigen Revisionsprozess. Der auf die Römischen Verträge von 1957 zurückgehende EG-Vertrag (EGV) ist durch die Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997) und Nizza (2000) verändert worden. Er enthält nach wie vor die meisten Bereiche des Primärrechts. Hinzugetreten ist seit dem Vertrag von Maastricht der EU-Vertrag (EUV). In einem gegenwärtig laufenden Verfahren (Reformvertrag von Lissabon, 2007) sollen die Inhalte der Verträge neu strukturiert werden. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurde 2000 in Nizza proklamiert. Sie ist kein offizieller Bestandteil des Primärrechts. Durch den Reformvertrag soll sie aufgewertet werden (vgl. Art. 6 EUV alte und neue Fassung).

Die Rechte behinderter Menschen waren zunächst vor allem als Teil der koordinierenden Sozialpolitik Gegenstand des europäischen Sekundärrechts. Erst durch den Vertrag von Amsterdam wurde 1997 mit Art. 13 EGV die primärrechtliche Ermächtigung aufgenommen, Maßnahmen gegen die Diskriminierung auch behinderter Menschen zu beschließen. Hiervon hat die Europäische Gemeinschaft in der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG für den Bereich von Beschäftigung und Beruf Gebrauch gemacht. Eine weiter gehende Gleichbehandlungsrichtlinie wird derzeit diskutiert. In der Charta der Grundrechte sind 2000 auch und besondere Gleichheitsrechte behinderter Menschen und soziale Grundrechte verankert worden (Art. 21, 26, 34). Damit wird die Entwicklung des Europäischen Rechts von der Rahmenordnung eines gemeinsamen Marktes zur Rahmenordnung sich immer stärker integrierender Gesellschaften deutlich, die auch die Inklusion von Personen einschließt, die von rechtlicher und sozialer Diskriminierung bedroht sind.

Immer stärker nutzt die Gemeinschaft auch ihre sektoralen Regelungskompetenzen für verschiedene Bereiche des Binnenmarktes und ihre Förderpolitik, um die Gleichstellung behinderter Menschen einzufordern. Der Reformvertrag soll ausdrücklich eine diesbezügliche Querschnittsklausel enthalten. Entsprechend werden in dieser Sammlung Normen des Primärrechts und allgemeine Querschnittsregelungen zur Gleichstellung behinderter Menschen aufgenommen; weitere europäische Normen des Sekundärrechts finden sich in den einzelnen Abschnitten.

II. Wesentlicher Inhalt

Art. 13 EGV ermächtigt den Rat, einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments, geeignete Vorkehrungen gegen Diskriminierungen zu treffen, die - neben anderen Merkmalen - sich auf eine Behinderung beziehen. Der Begriff der Behinderung wird im Gemeinschaftsrecht auf die Beeinträchtigung der Teilhabe in einem Lebensbereich bezogen (EuGH vom 11.7.2006, Rs C-13/05, Chacón Navas). Die Behinderung muss nicht zwingend bei der diskriminierten Person vorliegen (EuGH vom 17.7.2008, Rs C-303/06, Coleman).

Die VO 2006/1083/EG enthält allgemeine Bestimmungen für die Förderpraxis der EG aus ihren Fonds: dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, dem Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds, mit denen die Gemeinschaft im Rahmen von Art. 158 EGV den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der erweiterten EU stärkt. Nach Art. 16 EGV sollen Gleichstellung und Zugang behinderter Menschen bei der Mittelverwendung der Fonds besonders beachtet werden.

In der RL 2004/18/EG werden die in Deutschland vor allem im GWB umgesetzten Regelungen zur Vergabe öffentlicher Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge getroffen. Darin wird den Mitgliedstaaten ausdrücklich zugestanden, geschützte Werkstätten bei öffentlichen Aufträgen zu bevorzugen (Art. 18; vgl. § 141 SGB IX). Technische Spezifikationen öffentlicher Aufträge sollen den Zugangskriterien für Behinderte oder der Konzeption für alle Benutzer Rechnung tragen (Art. 23 Abs. 1; Anhang VI). Vergleichbare Regelungen enthält die RL 2004/17/EG zur Zuschlagerteilung im Bereich Wasser-, Energie- und Verkehrsordnung sowie der Postdienste.

III. Durchsetzbarkeit

Europäische Verordnungen sind von deutschen Gerichten unmittelbar anzuwenden. Richtlinien können zur Auslegung deutschen Rechts herangezogen werden, sind aber kein unmittelbar geltendes Recht. Sehen sich Unionsbürgerinnen und -bürger in Deutschland in ihren durch das Europäische Recht gewährten Rechten verletzt, steht ihnen kein unmittelbarer spezifischer Rechtsweg zur Verfügung. Sie müssen sich an die deutschen Behörden und Gerichte wenden. Hält ein deutsches Gericht - auch in einer unteren Instanz - eine europarechtliche Frage für entscheidungserheblich, etwa weil es deutsches Recht für möglicherweise europarechtswidrig hält, so kann es dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage zur Vorabentscheidung vorlegen (Art. 234 EGV). Im Übrigen können die Kommission (Art. 226 EGV) oder ein anderer Mitgliedstaat (Art. 227 EGV) Verletzungen des Europarechts beim EuGH geltend machen.

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