Berlin: Mythen, die sich in der Diskussion um eine diskriminierungsfreie Zuteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen hartnäckig halten, werden heute am 18. Oktober durch das NETZERK ARTIKEL 3 e.V. entzaubert. Morgen, am 19. Oktober, wird in einer öffentlichen Anhörung vor dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags über ein Gesetz zur Regelung der Triage debattiert. Von Triage-Situationen spricht man bei Zuteilungsentscheidungen, wenn die Ressourcen nicht mehr für alle ausreichen und entschieden werden muss, wer stirbt und wer dank Behandlung eine Überlebenschance erhält.
Mythos 1: Das Bundesverfassungsgericht hat die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ als Kriterium für zulässig erklärt. Deshalb dürfen jetzt nur Überlebenswahrscheinlichkeiten als das einzig zulässiges Entscheidungskriterium bei Zuteilungsentscheidungen in Triage-Situationen verglichen werden.
ABER: Gemeint war vom Bundesverfassungsgericht mit der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nur die Beurteilung einer Behandlungsindikation. Nach weiteren Ausführungen des Gerichts birgt die Einschätzung und der Vergleich von Erfolgsaussichten das Risiko einer Diskriminierung. Dasselbe trifft aber auch bei der Einschätzung und dem Vergleich von Überlebenswahrscheinlichkeiten zu.
Mythos 2: Triage-Situationen sind wie Notfallsituationen im Katastrophenfall.
ABER: Bei einer Katastrophensituation wird nach dem Vorliegen der Dringlichkeit gehandelt: Diejenigen, die Rettung am meisten benötigen, werden zuerst behandelt. Nach Vorgaben des Triage-Gesetzentwurfs werden nun diejenigen zuerst behandelt, die am stärksten sind und es am wenigsten brauchen.
Mythos 3: Randomisierung ist wie Würfeln oder ein Lostrommel-Entscheid.
ABER: Wie wird entschieden, wenn gleichzeitig 20 oder mehr ähnlich schwer erkrankte Patient*innen um 2 freie Beatmungsplätze konkurrieren? Die Ablehnung und Verächtlichmachung einer Randomisierung ist nicht wissenschaftsbasiert.
Mythos 4: Mit einer Randomisierung wird der Ärzteschaft in ihr Handwerk und ihre Therapiefreiheit eingegriffen.
ABER: Es ist nicht Aufgabe der Ärzteschaft, zu selektieren und Todesurteile auszusprechen.
Mythos 5: Wir handeln doch alle nach den Vorgaben unseres Grundgesetzes Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und Artikel 2 „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“!
ABER: Haben wir nicht alle tief in uns eine Einstellung die besagt, dass manche Leben doch mehr wert sind als andere? Sind wir wirklich gefeit davor, im Krisenfall eher nach unserer inneren Stimme als nach dem Grundgesetz mit seiner „Lebenswertindifferenz“ zu handeln?
Mythos 6: Unser Medizinsystem ist unbelastet von unserer Vergangenheit.
ABER: Vor 75 Jahren fand der Nürnberger Ärzteprozess statt und am kommenden Wochenende tagt der 6. Internationale Kongress der IPPNW unter dem Titel „Medizin und Gewissen“ zum Thema „LebensWert“. Die Verbrechen in der Nazidiktatur wurden nicht im Mittelalter, sondern von unseren Großeltern begangen. Was macht uns so sicher, dass wir nicht wieder allmählich in ein Selektionssystem hineinrutschen, in dem vermeintlich „lebensunwertes“ Leben aussortiert wird?
Mythos 7: Es hat noch nie eine Triage-Situation in Deutschland gegeben.
ABER: Es gab bereits die „Triage vor der Triage“: So wurden bereits behinderte und alte Menschen mit Corona-Infektion nicht ins Krankenhaus aufgenommen. Bekannt sind auch Initiativen (z.B. Landratsamt Tuttlingen), dass Heimbewohner*innen unterschreiben sollten, im Falle einer Coronainfektion auf Intensivtherapie zu verzichten.
Mythos 8: Das Mehraugenprinzip schützt vor falscher Beurteilung durch die Intensivmediziner*innen.
ABER: Bestehende Vorurteile im medizinischen System werden nicht dadurch vermieden, dass sie von zwei Personen mit vergleichbarer Ausbildung und weitgehend vergleichbarer Sozialisation vertreten werden.
Mythos 9: Die Ex-Post-Triage ist erforderlich, da sie mehr Überlebende garantieren kann.
ABER: Diese Behauptung ist nicht faktengestützt. Ebenso zulässig (und auch nicht faktengestützt) wäre die Behauptung, dass durch die Ex-Post-Triage mehr Menschen sterben werden, da wahrscheinlich immer wieder neue Patient*innen mit besserer Überlebenswahrscheinlichkeit eintreffen. Da müssen diejenigen, die einen Intensivplatz blockieren, immer wieder ihren Platz räumen und sterben.
Mythos 10: Wenn eine Ex-Post-Triage-Entscheidung strafbar sein sollte, geben sehr viele Ärzt*innen ihre Approbation zurück.
ABER: Diese Behauptung ist nicht faktengestützt, sondern soll Unsicherheit verbreiten.
Weitere Positionen zum Gesetzentwurf entnehmen Sie bitte der Stellungnahme zum Referentenentwurf des Gesetzes vom 21.07.22 unter: http://www.nw3.de/attachments/article/385/220721_NW3_Stellungnahme_Referentenentwurf.pdf