Berlin, 8.6.2024: "Im Koalitionsvertrag haben wir uns verpflichtet, Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens barrierefrei zu gestalten – insbesondere bei Mobilität, Wohnen, Gesundheit und im digitalen Bereich. Deshalb überarbeiten wir das Behindertengleichstellungsgesetz und planen, es bis Ende des Jahres zu verabschieden." Darauf wies der Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen der SPD-Bundestagsfraktion auf Anfrage der kobinet-nachrichten hin. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul hatte im Nachgang des Europäischen Protesttags zur Gleichstellung behinderter Menschen die behindertenpolitisch Verantwortlichen der Fraktionen der Regierungskoalition um eine Stellungnahme zur Umsetzung der behindertenpolitischen Maßnahmen auf Bundesebene angefragt.
kobinet-nachrichten: Die im Koalitionsvertrag verankerten Maßnahmen zur Behindertenpolitik haben vielen behinderten Menschen Hoffnung gemacht. Wie schätzen Sie die bisherige Umsetzung ein?
Takis Mehmet Ali: Ich sehe das Glas halb voll. Einige Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag stehen noch aus, doch wir haben einen wichtigen Schritt zur Inklusion auf dem Arbeitsmarkt gemacht. Im Dezember 2022 haben wir das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes auf den Weg gebracht, das Arbeitgeber stärker in die Pflicht nimmt. Eine vierte Stufe der Ausgleichsabgabe soll die Arbeitgeber treffen, die keinen einzigen Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen. Die Einnahmen werden zur Förderung der Beschäftigung von Menschen mit Schwerbehinderung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt genutzt werden. Eine Reform der Werkstätten und eine Novelle des Behindertengleichstellungsgesetzes wollen wir noch in dieser Legislaturperiode umsetzen.
kobinet-nachrichten: Behinderte Menschen und ihre Unterstützer*innen sind um den 5. Mai in vielen Städten und Gemeinden auf die Straße gegangen, um die Gleichstellung behinderter Menschen einzufordern. Wann können sie die Verabschiedung entsprechender Reformen für mehr Barrierefreiheit feiern?
Takis Mehmet Ali: Im Koalitionsvertrag haben wir uns verpflichtet, Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens barrierefrei zu gestalten – insbesondere bei Mobilität, Wohnen, Gesundheit und im digitalen Bereich. Deshalb überarbeiten wir das Behindertengleichstellungsgesetz und planen, es bis Ende des Jahres zu verabschieden. Mit diesem Gesetz wollen wir auch private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen dazu verpflichten, Barrieren abzubauen oder, wenn dies nicht möglich ist, angemessene Vorkehrungen zu treffen. Hier muss ich auch ganz klar an beide Koalitionspartner appellieren dieses Gesetz zu unterstützen, da die Novelle des Behindertengleichstellungsgesetz auch im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (Grüne) und des Bundesfinanzministerium (FDP) liegt. Die Umsetzung lässt schon zu lange auf sich warten. Inklusionspolitik durchzusetzen, bedeutet Menschenrechte durchzusetzen.
kobinet-nachrichten: Viele Reformvorschläge stecken anscheinend in den Schubladen der Ministerin fest. Warum kommen die geplanten Vorhaben nicht voran, zumal nur noch gut ein Jahr Zeit für die Verabschiedung im Bundestag in dieser Legislaturperiode ist?
Takis Mehmet Ali: Seit einigen Monaten führen wir intensive interne Gespräche zur Reform der Werkstätten und des Behindertengleichstellungsgesetzes. Beide Reformen sollen noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Sobald das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Referentenentwürfe vorlegt, werden wir diese im parlamentarischen Prozess weiterbearbeiten. Mir ist bewusst, dass wir dafür nur noch ein Jahr haben, bin aber zuversichtlich, dass wir das gemeinsam schaffen.
kobinet-nachrichten: Bei den Werkstätten für behinderte Menschen liegt einiges im Argen, werden in dieser Legislaturperiode noch entscheidende Maßnahmen für eine Reform des Werkstätten Systems und für mehr Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kommen?
Takis Mehmet Ali: Ein klares Ja. Wir erwarten den Referentenentwurf zur Reform der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen direkt nach der Sommerpause. Das Bundesarbeitsministerium hat im April einen „Aktionsplan für Übergänge aus den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen auf einen inklusiven Arbeitsmarkt“ veröffentlicht, und wir erhalten derzeit zahlreiche Stellungnahmen von Interessen- und Selbstvertretungsverbänden. Ziel des Aktionsplans ist es, die Einkommenssituation von werkstattbeschäftigten Menschen mit Behinderungen zu verbessern und die Bedingungen für den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt neu zu justieren. Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion ist dies ein erster Schritt. Die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) müssen nicht nur betreuen, sondern auch aktiv fördern können. Dafür muss die Werkstättenverordnung angepasst werden, wofür wir die Unterstützung der Länder benötigen, die die Eingliederungshilfe finanzieren.
Ein wichtiger Punkt: Es wurde die Sorge geäußert, dass die Förderung des Übergangs auf den allgemeinen Arbeitsmarkt als Auflösung der WfbM verstanden werden könnte. Mir ist es wichtig klarzustellen, dass die geplante Reform das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen nicht in Frage stellt. Vielmehr wird der Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt für diejenigen erleichtert, die dies wünschen, während der Arbeitsort WfbM weiterhin bestehen bleibt.