Berlin, 11.6.2024: "Die Aussonderung von Menschen mit Behinderungen in besondere Wohnformen, Werkstätten für behinderte Menschen oder Förderschulen muss beendet werden. Dazu sind wir spätestens seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Es ist skandalös, dass noch derart vielen Menschen aufgrund einer Behinderung die Teilhabe an einem Leben in der Gesellschaft verwehrt wird. Es braucht endlich inklusive Strukturen, damit alle Menschen ihr Menschenrecht auf gleichberechtige Teilhabe in allen Bereichen wahrnehmen können." Darauf wies die Berichterstatterin zur Behindertenpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Corinna Rüffer, auf Anfrage der kobinet-nachrichten hin. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul hatte im Nachgang des Europäischen Protesttags zur Gleichstellung behinderter Menschen die behindertenpolitisch Verantwortlichen der Fraktionen der Regierungskoalition um eine Stellungnahme zur Umsetzung der behindertenpolitischen Maßnahmen auf Bundesebene angefragt.
kobinet-nachrichten: Die im Koalitionsvertrag verankerten Maßnahmen zur Behindertenpolitik haben vielen behinderten Menschen Hoffnung gemacht. Wie schätzen Sie die bisherige Umsetzung ein?
Corinna Rüffer: In der Tat stehen im Koalitionsvertrag viele wichtige Vorhaben, um die Situation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass davon bisher zu wenig umgesetzt wurde. Genau genommen haben wir mit dem „Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts“ bislang nur ein dezidiert behindertenpolitisches Vorhaben in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht. Jetzt wollen wir die WfbM-Reform in Angriff nehmen, um weitere Schritte zu einem inklusiven Arbeitsmarkt zu gehen.
Darüber hinaus sind auch ein paar kleinere Fortschritte zu verzeichnen: Beispielsweise die Aufstockung der Haushaltsmittel für den Partizipationsfonds von jährlich 1,5 auf 2 Millionen Euro bei den letzten Haushaltsverhandlungen. Auch die Zusammenlegung der Kurzzeit- und Verhinderungspflege in einem gemeinsamen Entlastungsbudget im Rahmen des Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetzes war ein kleiner Erfolg.
kobinet-nachrichten: Viele Reformvorschläge stecken anscheinend in den Schubladen der Ministerin fest. Warum kommen die geplanten Vorhaben nicht voran, zumal nur noch gut ein Jahr Zeit für die Verabschiedung im Bundestag in dieser Legislaturperiode ist?
Corinna Rüffer: Ja, leider warten wir noch auf viele Vorschläge wie beispielsweise den verbesserten Zugang zum Persönlichen Budget, die konsequente Freistellung von Einkommen und Vermögen bei der Eingliederungshilfe oder ein Konzept zum wirksamen Gewaltschutz. Zwei Gründe, warum noch so wenig umgesetzt wurde, sind die angespannte Haushaltslage und die Bewältigung der vielfältigen Krisen. Doch allein damit lässt sich nicht alles entschuldigen. Oft erweisen sich auch die Lobbyverbände als Reformbremse, weil sie ihre eigenen Interessen und nicht die der Betroffenen an erste Stelle setzen – beispielsweise bei der Werkstatt-Reform.
Neben den einzelnen Gesetzesvorhaben gilt es mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention das übergeordnete Ziel, eine inklusive Gesellschaft zu gestalten, über diese Legislaturperioden hinaus zu fixieren. Dafür braucht es eine Enquete-Kommission zur gesellschaftlichen Inklusion – davon bin ich überzeugt. Es ist ein breiter Konsens aller Beteiligten notwendig: Bund, Länder und Kommunen, die Wissenschaft, behinderte Menschen und ihre Verbände, sie alle müssen sich auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen. Nur so lassen sich breit getragene Maßnahmen konzertieren und in einen verbindlichen Zeitplan gießen und nur so lässt sich der gesamtgesellschaftlichen Tragweite des Themas gerecht werden. Wir müssen endlich dafür Sorge tragen, dass sich wirklich etwas verändert. Ansonsten drohen wir uns im Klein-Klein zu verlieren.
Der Aussonderung von Menschen mit Behinderungen in besondere Wohnformen, Werkstätten für behinderte Menschen oder Förderschulen muss beendet werden. Dazu sind wir spätestens seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Es ist skandalös, dass noch derart vielen Menschen aufgrund einer Behinderung die Teilhabe an einem Leben in der Gesellschaft verwehrt wird. Es braucht endlich inklusive Strukturen, damit alle Menschen ihr Menschenrecht auf gleichberechtige Teilhabe in allen Bereichen wahrnehmen können.
kobinet-nachrichten: Bei den Werkstätten für behinderte Menschen liegt einiges im Argen. Werden in dieser Legislaturperiode noch entscheidende Maßnahmen für eine Reform des Werkstättensystems und für mehr Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kommen?
Corinna Rüffer: Was eine Reform der Werkstätten betrifft, ist im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir die Erkenntnisse aus der Studie zur „Entwicklung eines transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystems“ umsetzen wollen. In der laufenden Diskussion um eine Reform der Werkstätten werden dabei neben der Frage der Entlohnung auch die Zugänge in die Werkstätten, die Übergänge auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und die Förderung von Menschen mit komplexen Unterstützungsbedarfen in den Blick genommen.
Da eine umfassende Reform des Werkstattsystems derzeit allerdings noch auf erhebliche Widerstände stößt, werden wir diesen Prozess sicherlich nicht in dieser Legislaturperiode abschließen. Umso wichtiger ist es, wenigstens dort wirksame Verbesserungen umzusetzen, wo offensichtlich Handlungsbedarf besteht. Beispielsweise müssen wir bereits bestehende Instrumente wie das Budget für Ausbildung und das Budget für Arbeit endlich wesentlich leichter zugänglich machen.
Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, dass wir Fehlanreize abbauen, um Alternativen zum Werkstattsystem attraktiver zu machen. Beispielsweise ist es nicht akzeptabel, wenn ein Wechsel auf den allgemeinen Arbeitsmarkt mit Nachteilen in der sozialen Absicherung einhergeht. Es ist auch völlig berechtigt, dass WfbM-Beschäftigte mehr Geld verlangen. Aber es geht um mehr und daher führt ein alleiniger Fokus auf die Bezahlung auch in die Sackgasse.
Und zuletzt: Wir müssen erfolgreiche Initiativen aus der privaten Wirtschaft viel stärker unterstützen und endlich für verlässliche Rahmenbedingungen sorgen. Nach meiner Erfahrung sind viele Betriebe längst bereit und bauen in Eigeninitiative – beispielsweise in NRW – über Unternehmensnetzwerke Strukturen für einen inklusiven Arbeitsmarkt auf. Wir müssen politisch den Rahmen dafür schaffen, dass aus diesen Leuchttürmen die Regel wird.